KI, Geopolitik und die Zukunft deutscher Wertschöpfung.
Redetext gehalten am 26.3. im Rahmen des Treffen des KI Labs im Bundesverband digitale Wirtschaft.
Vielen Dank für die Einladung. Mein Name ist Tobi Nehren. Ich bin Berater und Gründer der areto8. Wir unterstützen Unternehmen dabei souverän und selbstwirksam in die Zukunft zu kommen. Ich mache das kurz, weil die Zeit heute knapp ist.
Was in den kommenden 15 Minuten kommt, wird eine Achterbahnfahrt. Etwas wild, weil wir über große Zusammenhänge in sehr kurzer Zeit sprechen werden. Ich versuche es dennoch unterhaltsam zu machen – und ich befürchte, wie bei der Achterbahnfahrt, wird es Ihnen danach nicht unbedingt besser gehen.
Aktuell hat man das Gefühl, dass sehr viel sehr gleichzeitig passiert. Überall Verwirrung, Verunsicherung und nervöses Umherblicken in der Hoffnung, dass da jemand ist, der Einordnung und Halt bietet. Ich kenne dieses Gefühl aus der Politik. Da hilft nur: Abstand nehmen und die Perspektive wechseln. Denn Distanz erhöht die Erkenntnis. Deshalb werden wir an Flughöhe gewinnen und uns ein Bild von oben machen, um ein paar größere Zusammenhänge zu erkennen.
Unser Fahrplan
Was in den kommenden 15 Minuten passieren wird:
Ich werde herleiten, wie sich Wertschöpfung durch Künstliche Intelligenz verschiebt und was das für uns bedeutet.
Ich werde erläutern, dass sich live beobachten lässt, wie sich die Handlungsmotivationen unserer wichtigsten geopolitischen Partner grundlegend verschieben.
Und ich erläutere, welche Aufgaben wir aus meiner Sicht zu lösen haben, um in Europa und Deutschland in Zukunft souverän Wohlstand erwirtschaften zu können.
Von physischen zu virtuellen Systemen
Wir stehen am Vorabend einer Revolution. Einer Revolution von physischer Wertschöpfung hin zu rein virtueller Wertschöpfung.
Wenn wir 100 Jahre zurückblicken, dann war Wertschöpfung durch die Verknüpfung von Maschinen geprägt. Maschinen die Muskelkraft ersetzten. Wertschöpfungsketten, in denen physische Produktionsgüter von Menschen betrieben und miteinander verknüpft waren und Dinge produzierten, die dann verkauft, genutzt und verbraucht wurden – beispielsweise Fließbandarbeit.
Darum haben sich Cluster für Wissenschaft und Innovation gebildet. Ein Ausbildungssystem aus dem Handwerk wurde in Konzerngilden überführt, in denen Fachkräfte ausgebildet wurden, die Maschinen bedienten, entwickelten und weiterentwickelten. Das Kapital für dieses System kam aus einer engen Verflechtung zwischen Banken und Vorstandsetagen. Wir nannten es "Deutschland AG".
Auf diesem System hat Deutschland großen Wohlstand erwirtschaftet. Unfassbare Maschinen gebaut; wir alle erinnern uns sicher an viele, viele Sendungen mit der Maus, die im Grunde nichts anderes sind als Predigten auf dieses System deutscher Exzellenz. Made in Germany als Markenzeichen für Qualität.
Ab den 90er Jahren kam dann diese nervige Digitalisierung dazu. Die Vorteile der Vernetzung waren unübersehbar. Global bildete sich eine Digitalwirtschaft heraus, die Plattformen und Anwendungen entstehen ließ, die so viele Vorteile für den Endkunden mitbrachten, dass sie viele Geschäftsmodelle verdrängten. Fragen Sie gern exemplarisch Buchhändler, Herrenausstatter, Plattenläden, Kaufhäuser. Diese Welle haben wir verpasst, ignoriert und weitgehend widerstandslos importiert: Amazon, Apple, Google...
Was vielfach gelungen ist, ist die Digitalisierung der Herstellung und des Betriebs von Produktionsgütern: vernetzte Maschinen, die intelligenter, effizienter und integrierter drehen, schleifen, hämmern, tackern, schweißen, bohren. Die Exzellenz der Deutschland AG haben wir mit digitalen Skills und Tools verschnitten, um Marktführerschaften auszubauen und Dinge von Weltrang zu produzieren. Maschinen, Autos, Stahl, Stecker, Schrauben und Bagger mit großer Genauigkeit und Spaltmaßen von Weltrang.
Wir nennen das Industrie 2 bis 4.0.
Das importierte digitale Rückgrat
Allerdings! Auf Basis eines digitalen Rückgrats, das wir importiert haben. Die Chips kamen aus Taiwan und den USA, die Cloud und die Rechner aus den USA. Das hat lange sehr gut funktioniert und uns in den 2010er Jahren sehr gesundes Wachstum beschert.
Warum haben wir uns nicht gekümmert? Im Grunde in der Annahme, der Hoffnung und dem Glauben, dass die Menschheit verstanden hat, dass Kooperation besser funktioniert als Konfrontation.
Der große Bruder USA war da. Die Geschichte laut Francis Fukuyama beendet und China ein ambitionierter und bewundernswert agiler Handelspartner – nah und zugleich weit genug weg.
Heute stehen wir vor einer – oder stecken mitten in einer – Umbruchsphase: Der Dematerialisierung unserer Wertschöpfung.
Dort, wo in den letzten 20 Jahren Software in alles Einzug gehalten hat, wird in den nächsten 20 Jahren alles Software werden.
Was meine ich damit? An der Stelle, wo deutsche Materialwissenschaftler, Maschinenbauer, Chemiker, Physiker und Konstrukteure in den letzten 80–100 Jahren krasse physische und cyber-physische Konstruktionen entworfen und umgesetzt haben, da werden in 20 Jahren KI-Agenten diese Konstruktionen entwerfen und umsetzen.
Die menschliche Rolle wird sich darauf beschränken, diese KI-Agenten zu konstruieren, zu überwachen, zu entwickeln und weiterzuentwickeln – schlicht deshalb, weil KI schneller und/oder effizienter produzieren kann als es Menschen können.
Es werden neue Materialien, Antriebe, Elemente, Medikamente, Stoffe und Moleküle entstehen. Alle werden gemein haben, dass die Differenzierung in der Produktion dieser Güter zunehmend im Digitalen, im Virtuellen stattfinden wird.
Die Ingenieursleistung wandert vom physischen Artefakt (Maschine) ins digitale Artefakt (Software und Modellentwicklung).
Das heißt auch: Das, was wir in der Industrie 4.0 als digitales Rückgrat importiert haben, wird zunehmend zur zentralen Säule wirtschaftlicher Wertschöpfung. Ohne Clouddienste, Chips, KI-Modelle und Entwickler wird es keine Exzellenz in der Wertschöpfung und damit keine selbstständige Wohlstandsproduktion mehr geben.
Nennen wir es AI-Industrie.
Und Status quo: Wir müssen die KI-Modelle, die wir neben Cloud, Energie und Chips brauchen, importieren. 70 Prozent der Modelle kommen aus den USA. China vergrößert den eigenen Anteil gerade mit sehr viel Aufwand. Chipproduktion haben wir kaum. Gründungen in dem Bereich tun sich schwer und wandern schnell aus Deutschland und Europa ab, weil dort das entsprechende Kapital nicht zur Verfügung steht.
Was ich mit der Herleitung sagen will: Die Dinge und Systeme, die uns hierhergebracht haben, werden uns nicht in die Zukunft bringen.
Geopolitik
Das haben die USA und China längst verstanden. Bei uns fällt der Groschen gerade erst– wenn man sich die gerade stattfindenden Koalitionsverhandlungen anschaut, dann hat auch die deutsche Politik den Schuss gehört. Stichwort: Milliardeninvestitionen in Infrastruktur, auch in digitale Infrastruktur.
Bringen wir das nun zusammen mit den Machtverschiebungen, die wir gerade erleben.
Ich deutete es an: Wir haben gehofft oder sind davon ausgegangen, dass das jetzt fertig ist – dieses Geopolitik. Dass sich da an den Rändern etwas tut, aber dass das im Kern schon so weitergeht.
Was sich in den letzten 8 Jahren schleichend und in den letzten 10 Wochen rasant verändert hat, ist die Abkehr vom Grundsatz der Kooperation in der Weltwirtschaft. Da, wo Putin laut Olaf Scholz eine Zeitenwende begonnen hat, hat spätestens mit Trump eine Wendezeit angefangen.
Mit Trump sind wir in einer Welt aufgewacht, in der der wichtigste Akteur nach der Annahme handelt, dass Geopolitik und Weltwirtschaft wie ein Nullsummenspiel funktionieren. Wenn jemand etwas bekommt, muss ich etwas verlieren. Aus dieser Maxime folgt: America First.
Für uns heißt das – und das ist der zweite Schock, den wir zu verdauen haben, nach der Erkenntnis, dass unser Geschäftsmodell grundlegend überarbeitet werden muss: Die großen globalen Akteure USA und China wenden sich zunehmend von der Idee ab, dass mehr Kooperation und mehr wirtschaftliche Zusammenarbeit besser für alle sind.
Vor allem in den letzten 10 Wochen hat das Trump-Team gezeigt, dass die USA zunehmend nach der Devise agieren: Es geht uns am besten, wenn wir an uns denken – dann nochmal an uns – und dann lange an nichts.
Davon zeugt die Ukrainepolitik, der Grönland-Vorstoß, die Kanada-Aussagen, die Zollpolitik sowie die Reden und Treffen bei Konferenzen und im Weißen Haus. Sie tun das mit brachialer Klarheit – siehe auch die Äußerungen, die „The Atlantic“ zuletzt veröffentlicht hat.
Opposition ist kaum zu vernehmen. Big Tech schwenkt ein – siehe Bezos und Zuckerberg – oder hält die Füße still – siehe exemplarisch die Debatten und Vorträge bei der SXSW, die im Grunde kaum Widerspruch enthielten; positive Ausnahme war Scott Galloway.
China auf der anderen Seite stellt, so haben die letzten 24 Monate gezeigt, nicht nur Geräte her, die der Westen konzipiert hat und tolles, blinkendes Plastikspielzeug – sondern komplizierte Produkte, die zu unseren in direkter Konkurrenz stehen. Die Debatte um die deutsche Automobilindustrie und die Konkurrenz aus China (BYD etc.) zeigt das publikumswirksam – oder die Debatten über KI-Modelle, Robotik oder Cloudanbieter.
Was das für Europa heißt
Der große Bruder ist ausgezogen und macht jetzt sein eigenes Ding. Er ist sicher noch erreichbar, aber es ist unsicher, ob er ans Telefon geht, wenn wir anrufen – oder ob er gerade Zeit und Lust hat zu kommen, wenn jemand uns ärgert und wir ihn brauchen könnten.
Deshalb müssen wir uns um unsere eigene Souveränität kümmern – und mit „wir“ meine ich Europa. Deutschland ist für die Aufgaben, die vor uns liegen, schlicht zu klein.
Und damit das hier keine Sonntagsrede wird, die mit kruden Metabotschaften endet – und weil Sie alle mit Digitalfokus hier versammelt sind – will ich zwei, drei Punkte möglichst hart und konkret machen:
Handlungsempehlungen
Wir müssen uns um eine eigene digitale Infrastruktur und Produkte kümmern. Wir brauchen eine Initiative für eine europäische Cloud, europäische KI-Programme, europäische Satelliten, die dezentrales Internet zur Verfügung stellen – usw. Das wird sehr viel Geld kosten.
Aber: Die politische Dynamik, die ich skizziert habe, sorgt für Druck. Das kann wiederum für die Nachfrage sorgen, die es braucht, um Produkte langfristig profitabel und erfolgreich zu entwickeln.
Das schiere Volumen, das für diese Infrastrukturmaßnahmen benötigt wird, wird nicht allein durch zivile Projekte zusammenkommen.
Es gilt, wirtschaftliche Souveränität und politisch-militärische Selbstständigkeit zusammenzudenken – so wie Israel das macht oder wie die USA das seit langem tun. Dann stecken in den beschlossenen Milliardenbudgets auf europäischer und auf deutscher Ebene die Gelder, die benötigt werden, um diese Vorhaben seriös anzugehen.
Für uns alle bedeutet das auch: die spitzen Finger gegenüber Rüstungsprojekten abzulegen. Wie gesagt: Der große Bruder ist ausgezogen. Das Rückgrat unseres Wohlstands müssen wir zunehmend selbst entwickeln, wenn wir uns nicht für alles beugen und bücken wollen.
Die Modelle, die Lieferdrohnen steuern, werden auch militärische Drohnen steuern. Die Satelliten, mit denen wir souveräne Kommunikationsinfrastruktur aufbauen, werden auch Panzer und Raketen steuern.
Behörden werden Daten sammeln, organisieren, zusammenführen, optimieren – und Systeme mit diesen Daten trainieren müssen.
Wer, wenn nicht die Digitalwirtschaft, wird dieses digitale Rückgrat mit und für die Behörden umsetzen?
Das sind ehrenwerte, wichtige, wirtschaftlich und politisch notwendige Vorhaben.
Wenn wir unseren Wohlstand und unsere Art zu leben in einer Welt sichern wollen, die sich zunehmend polarisiert, dann müssen wir diese Art zu leben auch selbst herstellen und verteidigen können – und das, ohne dass wir uns selbst dafür geißeln.
Die Digitalbranche
Wir, die Menschen, die jeden Tag rund um das Digitale arbeiten und beraten, müssen reflektieren, mit welcher Ernsthaftigkeit wir auf die aktuellen Entwicklungen schauen.
Es gilt, die Frage zu stellen, wo intelligente Systeme im eigenen Geschäftsmodell aufschlagen, was das auslöst – und dann die entsprechenden unternehmerischen Entscheidungen zu treffen und strategische Pfade zu legen.
Es gilt zu reflektieren, wie sehr wir Pfaden der Abhängigkeit folgen – oder mindestens auch reflektieren, welche Abhängigkeiten Unternehmen, mit denen wir arbeiten, bewusst eingehen. Ich meine das wirtschaftlich und politisch.
Optimieren wir Geschäftsmodelle mit einem neuen CRM oder einer besseren Website? Oder sind wir in der Lage und bereit, grundlegende Fragen zu stellen – und es auszuhalten, dass es sehr leise oder sehr laut wird, wenn tiefgreifende Fragen zum Geschäftsmodell des Kunden oder Klienten aufgeworfen werden?
Übertragen wir das auf die Zeit vor der industriellen Revolution.Was hätten wir den Betreibern von Webstuben geraten?
„Baut bessere Webstühle?“
„Kauft den Webern Handschuhe?“
„Seht nicht nach England?“
Oder wäre es eine gute Empfehlung gewesen, zu schauen, was diese automatischen Webstühle mit Geschäftsmodellen machen?
Zudem gilt es , die Souveränitätsfrage aufzuwerfen, wenn es darum geht, wo Daten gelagert oder verarbeitet werden, welche Software eingesetzt und gekauft wird. Die Erkenntnis, dass technische Entscheidungen auch politische Implikationen haben – und was diese bedeuten – sollte in Beratungsmandate Einzug halten.
Das klingt anstrengend – weil Geschäftsmodelle, die seit langem existieren, in Gefahr geraten und sterben werden. Und weil uns die politische Weltlage vor neue und große Herausforderungen stellt.
Die Chancen, die wir sehen:
Wenn Souveränität ein Handlungsparadigma wird – und darauf deutet heute sehr viel hin –, dann wird der Pfad dahin auch eine souveräne digitale Infrastruktur beinhalten. Diese wird keine andere Branche als die hier versammelte umsetzen, anwenden, entwickeln und implementieren können.
Drehen Sie sich um: Da gibt es keinen anderen Wirtschaftssektor, der die europäische Cloud, die europäischen KI-Modelle und souveräne Tools baut. Das wird die Digitalwirtschaft bauen, programmieren und betreiben müssen. Hier liegen Chancen, die wir betrachten, ergreifen und beraten sollten.
Budgets, die gerade mobilisiert werden, zeigen, zu was Deutschland und Europa in der Lage sind – und dass es ernsthaften politischen Willen gibt, um europäischen Wohlstand, europäische Wertschöpfung und Souveränität zu sichern. Diese Chancen sollten wir nutzen – und nicht verstolpern.
So. Ich hoffe, ich habe Sie ordentlich durchgeschüttelt – und dass es dennoch, wie bei einer guten Achterbahnfahrt, auch Spaß gemacht hat.