Die Ära der Intelligenzexponentialität.
Technologische Entwicklungen werden unser Leben, Arbeiten und Wirtschaften in den nächsten Jahren stark verändern. Veränderung bedeutet Unsicherheit, weil sich die Rahmenbedingungen unseres Handelns verschieben. Organisationen und die Menschen, die in ihnen arbeiten, brauchen Sicherheit, um durch den Wandel zu steuern. Es ist deshalb klug, sich ein klares Bild von der Umgebung zu machen, in der wir uns bewegen. Wenn wir eine Landkarte der Gegenwart zeichnen wollen, sollten wir zunächst auf das bestehende Kartenmaterial zurückgreifen. So bietet uns die Vergangenheit wertvolle Hilfe, um unsere Gegenwart zu verstehen und dann die Zukunft zu zeichnen und am Ende gestalten zu können.
Ausgangspunkte fundamentalen Wandels in der Geschichte
In der Geschichte hat es wiederholt Zeiträume gegeben, in denen technologische Entwicklungssprünge die Welt grundlegend verändert haben. Sogenannte "General Purpose Technologies" (GPTs) wie der Buchdruck oder die Dampfmaschine haben nicht nur einzelne Branchen transformiert, sondern ganze Gesellschaften; und sogar unseren Planeten. Sie haben das nie als abgekapselte technologische Innovationen getan, sondern ein technologisches Ökosystem in Schwung gesetzt, dessen Dynamik nach und nach zur Transformation in allen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Sphären führte. Ray Kurzweil hat diese Mechanik als “Law of Accelerating Returns” bezeichnet: Technologische Fortschritte befruchten sich selbst und erhöhen das Tempo weiterer Fortschritte. Wir beobachten in der Technikgeschichte Momente, in denen sich diese positiven feedback-Effekte einstellen und die Auswirkungen weit über das technologische und unternehmerische Ökosystem hinaus reichen. Die Effekte transformieren nach und nach ganze Gesellschaften und Volkswirtschaften.
Der Buchdruck: Die Ära der Wissensexponentialität
Mitte des 15 Jahrhunderts revolutionierte der Buchdruck die Verbreitung von Wissen und Veränderte den Lauf der Dinge Europa und der Welt maßgeblich. Der Buchdruck selbst steht auf einem Fundament technologischer Entwicklungen. Die bedeutendsten vorangegangenen Technologien waren Fortschritte in der Metallverarbeitung, die sich im Bereich der Münzprägung entwickelt hatten. Gutenberg nutzte diese Technologie zur Herstellung von beweglichen Lettern. Und schnell fanden Verbesserungen und Optimierungen rund um das Druckverfahren statt: beispielsweise wurden ölbasierte anstelle wasserbasierter Tinten entwickelt, die Papierqualität wurde den neuen Anforderungen angepasst und die ursprünglich verwendeten Wein- und Olivenölpressen wurden immer stärker modifiziert. Doch die Auswirkungen des Buchdrucks beschränkte sich nicht auf das unmittelbare technologische Umfeld.
Bildung und Wissensverbreitung
Durch die Möglichkeit, Bücher in großen Mengen zu produzieren, wurde Wissen für breite Bevölkerungsschichten zugänglich. Dies bildete die Grundlage für die Entstehung von Schulsystemen, die nach und nach allen Gesellschaftsschichten offenstanden. Lesen und schreiben, einst Privilegien der Mönche und Adeligen, wurden zu grundlegenden Fähigkeiten, die den Zugang zu Bildung und persönlicher Weiterentwicklung ermöglichten.
Recht und Verwaltung
Der Buchdruck trug wesentlich zur Standardisierung und Verbreitung von rechtlichen und administrativen Texten bei. Die Möglichkeit, Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften zu drucken, ermöglichte eine einheitlichere und gerechtere Rechtsanwendung. Dies legte den Grundstein für den modernen Rechtsstaat und die Entwicklung komplexer Verwaltungssysteme, die auf Transparenz und Nachvollziehbarkeit basierten.
Wirtschaft und Handel
Die Vervielfältigung von Wissen durch den Buchdruck führte auch zu einer intensiveren wirtschaftlichen Vernetzung. Gedruckte Bücher und Karten ermöglichten eine präzisere Navigation und Planung von Handelsrouten, was den internationalen Handel förderte. Die Verbreitung von Geschäftsinformationen und Handelskenntnissen trug zur Entstehung eines globalen Handelsnetzwerks bei, das die Grundlage für den modernen Freihandel bildete.
Religion und Gesellschaft
Die Verbreitung der Luther-Bibel durch den Buchdruck war ein Schlüsselfaktor für die Reformation, die nicht nur religiöse, sondern auch tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen mit sich brachte. Der Zugang zu religiösen Texten in der eigenen Sprache ermöglichte es den Menschen, ihre religiösen Überzeugungen selbstständig zu hinterfragen und zu vertiefen und war Grundlage für die schnelle Verbreitung des Protestantismus. Dies hatte weitreichende Folgen für die politische und gesellschaftliche Struktur Europas, einschließlich der Förderung individueller Freiheiten und der Bildung von Nationalstaaten.
Wissenschaft und Technologie
Die Verbreitung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Anleitungen durch den Buchdruck legte den Grundstein für die wissenschaftliche Revolution. Wissen konnte systematisch gesammelt, überprüft und weiterentwickelt werden. Dies führte zu Entdeckungen und Erfindungen in den Naturwissenschaften, die die technologische Entwicklung und den industriellen Fortschritt beeinflussten. Diese Folgen des Buchdrucks waren weder beabsichtigt noch vollzogen sie sich über Nacht. Dennoch hatte das technologische Schwungrad des Buchdrucks maßgeblichen Anteil daran, die europäischen Gesellschaften aus dem Mittelalter in die Zeit der Renaissance und Aufklärung zu katapultieren.
Die Dampfmaschine: Die Ära der Wertschöpfungsexponentialität
Die Erfindung der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert markierte den Beginn der industriellen Revolution. Es ist ein weiterer Epochenbruch, der seinen Auslöser in einem technologischen Schwungrad hatte. Fortschritte in der Eisen- und Stahlproduktion ermöglichten die Herstellung effizienterer Maschinen. Verbesserungen der Raffinerietechnik (von Kohle zu Koks, dann Öl und Gas) und Fortschritte in der Werkzeugtechnik machten leistungsfähigere Druckbehälter und Kolben möglich. Das Verständnis der mechanischen Prinzipien der Dampfmaschinen war auch Grundlage für die rasanten Entwicklungen der Elektrizität im 19. Jahrhundert, die zur Entwicklung von Elektromotoren und Generatoren führte und damit zum Durchbruch einer weiteren General Purpose Technologie.
Industrialisierung und Urbanisierung
Fabriken entstanden in großem Maßstab, deren Produktivität gegenüber den früheren Formen der handwerklichen Arbeitsteilung ein Vielfaches höher war. Dies führte zur Entstehung von Industriezentren. Eine weitere Folge der technologischen Entwicklungen war die Mechanisierung der Landwirtschaft. Durch sie wurden viele landwirtschaftliche Arbeitskräfte überflüssig. Die Kombination aus mechanisierter Landwirtschaft und industrialisierter Produktion führte zu einem rasanten Wachstum der Städte.
Arbeit und Sozialstruktur
Die industrielle Revolution brachte tiefgreifende Veränderungen in der Arbeitswelt mit sich. Die Fabriken der Industrialisierung führten zur Herausbildung einer neuen sozialen Klasse – der Arbeiterklasse. Diese Klasse spielte eine zentrale Rolle in den politischen und sozialen Konflikten des 19. und 20. Jahrhunderts, die zur Entstehung von Gewerkschaften, politischen Parteien und sozialen Bewegungen führten. Diese Entwicklungen trugen maßgeblich zur Demokratisierung der Gesellschaft und zur Einführung von sozialen Sicherungssystemen bei. Diese soziale und politische Struktur prägt die westlichen Industrienationen bis heute.
Globalisierung und Handel
Die Dampfmaschine revolutionierte den Transport, insbesondere durch die Entwicklung von Dampfschiffen und Eisenbahnen. Dies führte zu einer beschleunigten Globalisierung und einem immer intensiveren internationalen Handel. Waren konnten schneller und in größeren Mengen über weite Strecken transportiert werden, was zu einer weltweiten Arbeitsteilung und einem globalen Wirtschaftsnetzwerk über alle Kontinente führte.
Umwelt und Nachhaltigkeit
Die industrielle Revolution brachte enormen Zuwachs an wirtschaftlichen Wohlstand mit sich, der auf Grundlage der intensiven Nutzung fossiler Brennstoffe wie Kohle und später Erdöl basierte. Die tiefgreifenden Folgen und Probleme durch Umweltverschmutzung und Klimawandel sind seit einigen Jahrzehnten offenbar und stellen uns heute vor gewaltige Herausforderungen.
Banken, Versicherungswesen und Sozialstaat
Die spezifischen Risiken der industriellen Revolution, wie die Zunahme von Feuerschäden in schnell wachsenden Städten und die Gefahren des Seehandels, führten dazu, dass es einen steigenden Bedarf danach gab, Unsicherheiten abzusichern und in der Folge die ersten privaten Versicherungsunternehmen entstehen zu lassen. Unternehmen wie Lloyd's of London entwickelten innovative Wege zur Risikominderung und finanziellen Absicherung. Darüber hinaus führte die Industrialisierung zur Einführung von Sozialversicherungen, die Risiken wie Invalidität, Tod (Witwen- und Waisenrente) und Arbeitslosigkeit abdeckten. Diese Systeme bildeten die Grundlage für den modernen Sozialstaat, der eine zentrale Rolle in der Absicherung sozialer Risiken und der Förderung des sozialen Zusammenhalts spielt. Mit der Industrialisierung und der massiven Zunahme des Handels im 19. Jahrhundert wuchs der Bedarf an Kapital, was zur Entstehung moderner Geschäftsbanken führte, die Einlagen annahmen und Kredite an Unternehmen und Privatpersonen vergaben.
Heute: Die Ära der Intelligenzexponentialität
Heute stehen wir an einem Punkt, an dem die Entwicklungen in gleich drei technologischen Bereichen sich massiv gegenseitig verstärken. Das ist zum Ersten der Bereich Computing, also die Entwicklung der Rechenleistung von Computerchips und Prozessoren. Zweitens ist es die Vernetzung - also das, was wir gemeinhin als „Internet“ bezeichnen, was uns aber mittlerweile in vielfältigen Formen als unternehmensinternes Intranet, als webbasierte Geschäftsmodelle im www, in Form von Social Media, als Vernetzung von Haushaltsgegenständen wie Kühlschränke, Heizungen und Lampen als smart home oder als cloudbasierte Formen der Zusammenarbeit im Home oder Remote Office begegnet. Und drittens kommen die Fortschritte in der Künstlichen Intelligenz hinzu. Rechenleistung und Vernetzung produzieren die Datengrundlage, um künstliche neuronale Netze zu trainieren und in die Lage zu versetzen menschliche, also allgemeine Intelligenz, sehr glaubhaft zu imitieren. Der Fortschritt, den wir in diesen Bereichen beobachten ist enorm. Fast täglich erscheinen neue Beispiele für den Einsatz von KI-Anwendungen, monatlich verbesserte KI-Modelle mit rasant wachsenden Fähigkeiten, die auf immer besseren Prozessoren und größeren Trainingsdatenmengen und größeren Modellen beruhen.
Dieses technologische Schwungrad wird in seinen Auswirkungen ebenso fundamentale Veränderungen bewirken, wie es der Buchdruck und die Dampfmaschine getan haben. Der Eintritt in diese neue Ära, deren Schwelle wir übertreten haben, wird nicht ohne Reibungen und Konflikte ablaufen. Die konkreten Formen und Muster dieser neuen Ära noch nicht klar umrissen. Die Unsicherheit ist enorm. Deswegen sind auch einige der Gegenwartsphänomene nicht weiter verwunderlich. Die Goldgräberstimmung, die sich zum Beispiel in der Bewertung von Chipherstellern wie Nvidia oder KI-Unternehmen wie ChatGPT zeigt und zugleich geringes Wachstum in den meisten “alten” Wirtschaftsbranchen. Auch die zunehmende Frustration über das Funktionieren von Verwaltung und Politik erscheint nahezu logisch angesichts der user experience, die radikal auf Kundenzufriedenheit getrimmten Unternehmen wie Amazon, Apple oder Netflix andernorts bieten und einer entsprechenden „alles jederzeit und überall“-Erwartungshaltung. Arbeitnehmer:innen sind zunehmend weniger bereit, starre Regime von Arbeitszeit und -ort zu akzeptieren, wenn die Arbeit ohnehin in der Cloud stattfindet und eigenverantwortliches Arbeiten zunehmend die Maxime ist. Große Teile des Alltags sind nach wie vor über hergebrachte Institutionen und Prozesse organisiert, die nicht mehr in der Lage sind, einen Output zu erbringen, der den Erfahrungen und den daraus erwachsenden Erwartungen entspricht. Denn mehr und mehr Produkte und Dienstleistungen richten sich am Ideal der seamless customer experience aus. Der Verweis auf die unterschiedlichen Rollen als Konsument:in, Arbeitnehmer:in oder Bürger:in ist zwar analytisch zutreffend, bleibt aber individualpsychologisch wirkungslos. Die immer größer werdende Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität zeigt sich in Phänomenen wie zunehmender Gereiztheit, Frustration und Teilnahmslosigkeit oder Apathie.
Es ist also diese „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Ernst Bloch), die hinter den Spannungen und Störungen unserer Gegenwart liegt. Wir beobachten sie auf individueller, organisatorischer bzw. Unternehmensebene und auf politischer und internationaler Ebene. Diese Ungleichzeitigkeit innerhalb von Organisationen aufzulösen und sie in produktiven Fortschritt zu verwandeln ist die große Herausforderung unserer Zeit. Wir sind der Überzeugung, dass wir die kommende Transformation nicht delegieren können. Weder an Big Tech noch an Regierungen oder Parteien. Die Aufgabe unserer Generation ist es, die Veränderungen anzunehmen, die technologische Disruptionen auslösen und in Fortschritt zu verwandeln. Zu dieser Aufgabe wollen wir mit areto 8 einen Beitrag leisten.