Die Linie vom Walkman zu Neuralink
Können Sie sich noch daran erinnern, als alle über Apple lachten, weil sie uns für 180 Euro Zahnbürstenköpfe für die Ohren verkaufen wollten? „Die Dinger sehen eben aus, als hätte man normalen Hörern das Kabel abgeschnitten“, schrieb die SZ und fragte sich und uns, ob die Fanboys und -girls das noch mitmachen würden. Turned out: Sie machten mit, und heute ist es so normal wie Schuhe tragen, dass wir Menschen mit kabellosen Buds/Pods/Pits auf der Straße sehen. So normal, dass amerikanische Präsidentschaftskandidaten eigene Kopfhörer anbieten.
Seit fast 50 Jahren erobern Gadgets zunehmend jeden Winkel unseres Lebens: Musik, Spiele, Surfen, Lesen, Gesundheit. Personal Electronics sind ein Milliardenmarkt. Was macht diesen Markt aus, und in welche Richtung könnte er sich in den kommenden Jahren entwickeln?
Walkman, Gameboy und iPhone haben mit Sony, Nintendo und Apple nicht nur Unternehmen erfolgreich gemacht. Mit diesen Produkten wurden neue Geschäftsfelder geschaffen, weil sie Bereiche menschlichen Lebens wirtschaftlich erschlossen haben, die zuvor unangetastet blieben.
Individueller und mobiler Konsum von Musik, Spielen, Unterhaltung und Kommunikation waren vor 50 Jahren nicht oder zumindest kaum existent. Umso größer war der Boom, den die Einführung des Walkmans mit sich brachte.
Der Alltag sei nicht mehr grau und trist, sondern werde belebt, bunt und cool. Die Kopfhörer wurden zum Markenzeichen eines neuen Lifestyles, Stars und Prominente zu Botschaftern. Musikkonsum eroberte Straßen, U-Bahnen, Flugzeuge und Wartesäle. Bedenken wurden laut, ob gesellschaftliche Isolation um sich greifen werde und ob die Jugend auf Hörschäden in nie dagewesen Umfängen zusteuere.
Sony verkaufte insgesamt 335 Millionen Walkmans und wurde mit dem Produkt so genreprägend, dass der Walkman zum Gattungsbegriff für alle mobilen Stereo-Geräte wurde, der Ritterschlag für jede Marke.
Eine ähnliche Bedeutung kommt dem Gameboy im Bereich Mobile Gaming und dem iPhone im Bereich Smartphones zu. Diese Geräte erfanden eine Gerätegattung, die die Art, wie wir leben und interagieren, maßgeblich verändert hat und ein ganzes Universum ähnlicher Geräte schuf. Vielmehr noch waren und sind sie die Plattform für Produkte und Anwendungen in ihrem Umfeld. Der Walkman und Game hatten und haben unzählige Derivate hervorgebracht. Die Geschichte der Kopfhörer wäre ebenso undenkbar ohne mobile Kassettenspieler wie die Geschichte der Tapedecks und Mixtapes. Der Aufstieg der Spieleindustrie war gekoppelt an den Erfolg des mobilen Spielens und an den App Store. Die dahinterliegende Industrie braucht ebenso wenig erläutert zu werden wie jene der Cases, Halterungen, Aufsteck- und Ergänzungsgadgets rund um das Smartphone. Mobile Electronics im Allgemeinen und Wearables im Speziellen sind ein Milliardenmarkt.
Hier geht es aber nicht um Technikgeschichte oder nostalgische Rückblicke (dafür kann man Guardians of the Galaxy oder Stranger Things anschauen). Interessant ist vielmehr, wie sich die Linie, die Walkman, Gameboy, iPhone und Co. verbindet, in die Zukunft verlängern lässt. Welche Szenarien ergeben sich, wenn man diese beeindruckende Entwicklungsgeschichte weiterdenkt, und was bedeutet das für Geschäftsmodelle, Märkte, Produkte gar für die Menschheit?
Die genannten Geräte zeigen, dass sich individuelle Momente der geistigen Richtungslosigkeit (z.B. des Wartens, des Pendelns, der Untätigkeit) mit dem Konsum von Medien, Spielen, Informationen füllen lassen. Diese Momente werden zu Momenten der Unterhaltung, des Spiels oder auch der Arbeit umgewidmet. Es gibt offenkundig ein Bedürfnis nach situativer Sinnfüllung. Dieses Bedürfnis lässt sich kapitalisieren. Das haben der Walkman, der Gameboy und das iPhone gezeigt. Smartwatches, Meta-Ray-Ban-Glasses und kabellose Kopfhörer bieten Komfort und Zusatzfunktionen (Noise-Cancelling, Sprachsteuerung usw.) durch Verbindung ehemals voneinander getrennt funktionierender Geräte. Der Oura-Ring, das Whoop-Armband und die Kern-Temperatur-Pille zeigen, dass auch die Optimierung der eigenen Gesundheit, der Fitness, der sportlichen Leistungsfähigkeit und der Aufmerksamkeit durch Unternehmen entdeckt und mit Geschäftsmodellen adressiert werden.
Wenn man antizipieren will, wohin die Entwicklung der Personal Electronics führen könnte, lohnt es, die beschriebenen Phänomene und Entwicklungen weiterzudenken. Wie kann die weitere Integration der Geräte und Funktionalitäten gelingen? Welche Sinne lassen sich durch Digitalisierungs- und Vernetzungsmaßnahmen zukünftig besser oder intensiver ansprechen? Was geschieht, wenn Geräte nicht nur am Körper, sondern zunehmend im Körper getragen werden? Welche Daten Daten entstehen dann und wie welche können Künstliche Intelligenzen, die damit trainiert werden? Um sich Fragen solcher Art systematisch und geordnet zu nähern, haben wir ein Future Wheels für die Zukunft der Personal Electronics erstellt.
Update vom 10.9.2024:
Apple hat am 9.9.2024 die Hearing Aid Features für die AirpodsPro vorgestellt. Hier einige Überlegungen dazu.